18 Uhr. Der Tag im Büro war nicht unanstrengend. Ich komme nach einer sardinenmäßigen S-Bahn Fahrt nach Hause, meine Frau eilt mir mit fliegenden Fahnen entgegen, drückt mir die Kinder in die Hand, ruft: „Das Telefon geht nicht!“ und ist weg. Kinder sind quakig. Baue im Kinderzimmer in Windeseile ein Arche-Noah-Raumschiff mit allen Duplo Bausteinen und Tieren, die wir haben. Zur Raumschiff-Enterprise Melodie lasse ich es ein paar mal durchs Kinderzimmer fliegen – die beiden können ihr Interesse nicht ganz verbergen. Ich überlasse mein Kunstwerk ihren destruktiven kleinen Händen und nutze die Chance die kostenpflichtige (!) Hotline anzurufen. „…sagen Sie bitte 3 wenn Sie ein Problem haben!“ – „DREI!“ – „Ich habe Sie leider nicht verstanden, der nächste freie Mitarbeiter ist für Sie da.“ – Warteschleife. Werbung für den tollen Service der Telefongesellschaft. Ich mach’ auf Freisprech und nutze die Wartezeit, um das Abendessen vorzubereiten.
Die ca. 1 X 1 cm großen Leberwurstbrotstückchen hängen wie immer aneinander und am Messer und nach der Mahlzeit wird Karl sie noch an Stellen kleben, die ich im schlechtesten Fall erst Tage später entdecke. Erfrischend leicht zu finden ist der nicht unerhebliche Teil der Leberwurst, der wiedermal in seinen Haaren kleben wird. Er liebt es, sich den vollen Teller durchs Gesicht und über die Haare zu schmieren. Mit Leberwurst lassen sich eindrucksvolle Frisuren gestalten. Die Leberwurstorgie lässt sich nur verhindern, wenn man exakt den Sättigungszeitpunkt abpasst, um einzugreifen bevor die Nahrungsaufnahme ins experimentelle Spiel mit Lebensmitteln übergeht. Das gelingt nicht immer, aber immer öfter.
Das Callcenter hat Erbarmen, ein Mitarbeiter meldet sich: „Ja, wenn Sie ein Problem haben, dann rufen Sie doch unsere kostenlose Hotline für technische Probleme an unter…“ Die Nummer wird angesagt, die Kinder brüllen, Karl ist mit dem Rücken auf das Raumschiff gefallen – er neigt dazu, sich zu überschätzen. Stellt sich einfach hin, obwohl er es noch nicht kann, fällt um und ist stocksauer. Aus Solidarität brüllt Martha mit. Es ist nichts ernstes, es sind ein paar Kühe vom Raumschiff gefallen, aber die Lautstärke ist enorm und ich verstehe die angesagte Nummer nicht. Wieder Hotline, wieder Warteschleife. Wir füttern die Tiere auf dem Raumschiff.
18:45 Uhr. Ich erreiche endlich den richtigen Mitarbeiter bei der richtigen Hotline. Muss mit dem Telefon am Ohr nach oben – Telefonanlage neu programmieren. Netbook dran anschließen. Als Martha mich mit dem Netbook sieht, ist sie nicht mehr zu halten: „Papa! Youtube! Maulwurf gucken!“ – Sie darf manchmal den kleinen Maulwurf aus der Sendung mit der Maus auf youtube sehen. Wenn Sie ganz besonders lieb war, als Belohnung, aber nur eine Folge! „Papa! WWW – youtube – Enter!“ – Ich habe Ihr das mal erklärt. Sie mag am liebsten den
Maulwurf im Zoo – ich finde den
Maulwurf in der Wüste super – wegen dem Hubschrauber. Als ich aber Anstalten mache, ohne Sie nach oben zu gehen, brüllt sie um ihr Leben. Dem Mann vom Callcenter fallen die Ohren ab. Karl brüllt aus Solidarität mit, obwohl der eigentlich friedlich die Schafe vom Raumschiff rupft und liebevoll einzeln besabbert. Ich nehme die sichtlich erfreue Martha unterm Arm mit. Karl widmet sich wieder den Schafen. Martha darf in Mamas und Papas Schlafzimmer spielen und verspricht ruhig zu sein, wenn Sie nachher Maulwurf gucken darf. Der Mann vom Callcenter programmiert mit mir die Anlage.
19:15 Uhr Endlich geht alles wieder. Martha war wunderbar ruhig. Ein blick ins Schlafzimmer und ich weiß auch warum: Sie hat sich über und über mit Vanille-Wohlfühl-Körperöl eingeschmiert und die zwei drei Quadratmeter um sich herum gleich mit. Sie sieht aus wie der frisch aus dem Wasser gezogene
Hanns Guck-in-die-Luft aus dem Struwwelpeter. Nur dass es leider Öl ist, kein Wasser. Ich wusste gar nicht das wir so was haben – wo hat sie das her? Ich schlucke dreimal, atme tief durch, es brodelt in mir, Wut steigt auf, meine Stimme zittert leicht: „Martha, das war jetzt nicht so gut.“ – „Ich mach das nie wieder lieber Papa!“ – Ihre entwaffnende Standardantwort. Sie macht es dann auch nie wieder – sie mach ja jedes Mal was anderes. Ich setze meine kleine Ölsardine so wie sie ist an den Abendbrottisch. Sie stochert wie immer lustlos im Essen, während Karl sich über sein Leberwurstbrot her macht, als gäbe es kein Morgen.
Meine Frau kommt wider. Ich: „Das Telefon geht wieder!“ – Sie: „Och, die Leberwurst ist ja ganz angetrocknet.“ Dann sieht Sie Martha in Öl…
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yeats77 - 4. Sep, 11:43